Das Leben in einer Familie kann bisweilen eine philosophische Reise sein. Ein Kind in unserem Leben regt uns oft zum Nachdenken an. Zum Beispiel, wenn es gemächlich seine Schuhe auszieht, während wir bereits in vollem Ornat stehen und seinen Rucksack vor der offenen Haustür in der Hand halten. Doch was ist Zeit?
Die Vielschichtigkeit der Zeitwahrnehmung
Unsere Auffassung von Zeit ist eng mit unserer Lebensphase verknüpft.
Erwachsene sind oft dazu geneigt, während sie Aufgaben erledigen, schon an die nächste Aufgabe auf ihrer To-Do-Liste zu denken. Kinder hingegen leben im gegenwärtigen Moment. Die Uhrzeit ist für sie unbedeutend, sei es, dass sie fröhlich auf der Schaukel durch die Lüfte fliegen oder wütend vor dem verweigerten Schokoriegel im Bioladen schreien. Kinder leben im Hier und Jetzt, ganz gleich, ob etwas in zehn Minuten, heute Abend oder erst übermorgen geschehen soll – Zeit spielt für sie keine Rolle.
Die Entwicklung des Zeitverständnisses
Dennoch beginnen selbst die Kleinsten, ein Verständnis für Zeitabläufe zu entwickeln. Bereits sechs Monate alte Babys folgen einem inneren Zeitplan, wie Entwicklungspsychologen festgestellt haben. Sie schätzen Vertrautes und wiederkehrende Muster. Diese Präferenz beginnt sogar im Mutterleib, wenn das ungeborene Kind den Herzschlag der Mutter hört.
Später erkennen Babys vertraute Rituale wieder. Die Erwartungen der Kleinen sind offensichtlich. Sie strampeln vor Aufregung, winken mit den Händen und strahlen bis über beide Ohren. Diese Wiederholungen erleben sie als angenehmes und vertrautes Ritual.
Studien zeigen, dass schon Dreijährige Zeitabläufe planen können, insbesondere wenn sie mit positiven Emotionen verknüpft sind. Sie können beispielsweise verstehen, dass nach dem Durchstreichen von drei Tagen im Kalender ihr Geburtstag ansteht. Die Vorfreude spielt hierbei eine wichtige Rolle und unterstützt den Lernprozess.
Die Kunst des „Flow“
Ein weiterer spannender Aspekt ist der sogenannte „Flow“, jener begehrte Zustand, in dem wir vollkommen in unserer Tätigkeit aufgehen. Kinder sind natürliche Meister dieses Zustands. Sie beobachten geduldig und vergessen dabei die Welt um sich herum. Sie wiederholen Dinge, die ihnen Freude bereiten, immer und immer wieder. Ein sich lngsam wieder einbuddelnder Regenwurm kann für sie äußerst faszinierend sein. Sie bleiben im Jetzt und erleben ein wunderbares Gefühl von absoluter Präsenz.
Die Herausforderung des Erwachsenenzeitplans
Dieser Zustand wird jedoch unterbrochen, wenn Erwachsene mit ihren engen Zeitplänen und Forderungen auftreten. In solchen Momenten stehen Kinder vor der Herausforderung, zwischen ihrer Versunkenheit und den Anforderungen der Erwachsenen. Dies führt zu einer Kollision zwischen der kindlichen Entspanntheit und dem Zeitdruck der Erwachsenen.
Mehr Geduld für ein harmonisches Miteinander
Daher drängt sich die Frage auf, ob Erwachsene gelegentlich innehalten könnten. Manchmal geht es nur um ein paar Minuten, die ein Kind benötigt, um sein Tun zu beenden. Könnten wir Erwachsene nicht hin und wieder mehr Geduld aufbringen?
Natürlich ist es nicht immer möglich, sich vollkommen dem Tempo der Kinder anzupassen. Der Alltag erfordert eine gewisse Organisation, und die Zeit wartet nicht, beispielsweise wenn wir verreisen wollen. Dennoch sollten wir in Betracht ziehen, unsere Kinder öfter in ihrem eigenen Rhythmus zu lassen. Manchmal führt der sanfte Weg schneller ans Ziel als das ständige Hetzen.